‘Später entdeckte ich vom Bahndamm aus die Höfe neu. Wenn ich an schwülen Sommernachmittagen aus dem Abteil auf sie heruntersah, schien sich der Sommer in sie eingesperrt und von der Landschaft losgesagt zu haben. Und die Geranien, die mit roten Blüten aus ihren Kasten sahen, passten minder zu ihm als die roten Matratzen, die am Vormittag zum Lüften über den Brüstungen gehangen hatten. Eiserne Gartenstühle, die aus Astwerk oder von Schilf umwunden schienen, waren die Sitzgelegenheit der Loggia. Wir zogen sie heran, wenn sich am Abend des Lesekränzchen auf ihr versammelte. Aus einem rot- und grüngeflammten Kelch schien auf die Reclamhefte das Gaslicht nieder. Romeos letzter Seufzer strich durch unsern Hof auf seiner Suche nach dem Echo, das ihm die Gruft der Julia in Bereitschaft hielt.
Seitdem ich Kind war, haben sich die Loggien weniger verändert als die anderen Räume. Sie sind mir nicht nur darum nahe. Es ist vielmehr des Trostes wegen, der in ihrer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber nicht mehr recht zum Wohnen kommt. An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, dass nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füssen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefasst, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf.
[Walter Benjamin, Berliner Kindheit um 1900, p. 13.]